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Heute im Interview: Ein ehemaliger Kommunikationsverantwortlicher eines Schweizer Grossunternehmens

Auf Deine letzte Rolle bezogen: Wie sind Führungskräfte von der Digitalisierung betroffen?
Als ich angefangen habe, kam ich in ein Kommunikations-Team, das unter anderem direkt für die Unternehmensleitung arbeitete. Mein damaliger Vorgesetzter hatte ein grosses Sicherheitsbedürfnis und wollte, dass seine Mitarbeitenden immer für ihn da waren. Vor über zehn Jahren bekam ich mein erstes Handy auf Geschäftskosten. Damit war ich an einer elektronischen Leine – Tag und Nacht.

Das war Bestandteil Deines Jobprofils?
Ja, das waren die Spielregeln für den Job. Denn dazu gehörte, ständig für die Unternehmensspitze im Einsatz sein zu können. Ein bis zwei Mal pro Woche kocht eine mehr oder weniger grosse Krise hoch. Die Kommunikation hat die Aufgabe, die exponierten Personen davor zu schützen.

Abgesehen von den Krisen, die kurze Reaktionszeiten erfordern: Wie hat die Digitalisierung Deinen Alltag beeinflusst?
Die Digitalisierung hat natürlich auch ermöglicht, dass du mehr Arbeit in weniger Zeit erledigen konntest. Dadurch, dass die Andern auch viel besser erreichbar und immer operativ waren, konntest du Arbeitsprozesse extrem beschleunigen.

Wie haben sich die vielfachen Möglichkeiten ausgewirkt auf die Fähigkeit, sich auf etwas Bestimmtes zu konzentrieren?
Wenn ich eine Rede oder einen wichtigen Auftritt für einen Repräsentanten der Unternehmensspitze vorbereiten musste, dann habe ich mich zurückgezogen.
Das ging später nicht mehr, als ich in einer Führungsfunktion war, einen enormen Sitzungsaufwand hatte und gleichzeitig von mir erwartet wurde, dass ich produktiv arbeite.
Spätestens mit der Einführung des papierlosen Büros konntest du dann an Sitzungen teilnehmen und gleichzeitig relativ unauffällig produktiv weiterarbeiten. Das war zwar ziemlicher Stress, weil du in der Sitzung jeden Moment gefragt werden konntest «Und wie siehst du das?» und gleichzeitig dabei warst, deinen Leuten Feedback zu geben oder neue Aufträge zu verteilen. Es kann aber auch befriedigend sein, wenn du das Gefühl hast, eine mühsame Sitzung produktiv genutzt zu haben. Aber es ist zu einem schönen Teil Selbstausbeutung, da du mindestens zwei Jobs parallel machst.

Ein absurdes Bild von aussen betrachtet: Sechs Personen an einer Sitzung, jeder mit offenem Laptop am Multitasken. Gab es eine Reflexion über diese Art von Zusammenarbeit?
Am Anfang vielleicht schon, im Sinne von, dass es unanständig ist, währenddem jemand in der Sitzung spricht, am Laptop oder Telefon herumzuhantieren. Als aber die Idee des papierlosen Büros umgesetzt wurde, ging es gar nicht anders, als dass alle die Sitzungsdokumente am Laptop mitlasen und auf diesem ihre Notizen tippten. Ein Wendepunkt war, als wir begannen mit Scrum zu arbeiten und der Austausch im Team mittels einer komplett analogen Methode stattfand.

Durften Deine Mitarbeitenden abschalten oder mussten sie auch permanent erreichbar sein?
Wir haben damals ein Commitment ausgearbeitet, dass es keine Erwartung seitens Vorgesetzten geben darf, dass Mitarbeitende ausserhalb der Bürozeiten erreichbar sind.

Das bedeutet also, die Verantwortung wurde in den Zuständigkeitsbereich der Mitarbeitenden delegiert? Nimmt das nicht die Verantwortung von den Vorgesetzten weg, einzuschätzen, was es bewirkt, wenn sie ihren Mitarbeitenden am Sonntag E-Mails schicken?
Man stellte sich auf den Standpunkt, dass es Mitarbeitende gibt, die lieber am Sonntagabend E-Mails bearbeiten und dafür am Montagmorgen die Kinder zur Schule begleiten können und später ins Büro kommen.
Die andere Seite ist, dass Mitarbeitende teilweise in Konkurrenz zueinander stehen und rasche Reaktionszeiten dann durchaus als ein Kriterium für hohes Engagement gelten, was wiederum beim nächsten Lohngespräch oder Karriereschritt eine Rolle spielt. So wird etwas honoriert, von dem man gesagt hat, man erwarte es nicht.

Das heisst, ein solches Commitment wird zur Farce, weil daneben trotzdem eine Kultur der permanenten Erreichbarkeit gefördert wird? Ein Beurteilungskriterium könnte ja auch sein, dass ich jene Mitarbeitenden befördere, die nicht antworten, weil ich sehe, dass sie sich abgrenzen können?
Warum nicht, denn vielleicht arbeiten die nachhaltiger und bleiben längerfristig leistungsfähig fürs Unternehmen.

Das scheint nicht das vorherrschende Denken zu sein?
Nein, dieses Denken war im Grossteil des Managements, dem ich angehört habe, nicht gefragt. Dort geht es um den schnellen Erfolg, darum, derjenige zu sein, der als Erster ein Geschäft abschliessen oder ein Problem lösen kann und Gewinn macht. Aussagen, man solle auf eine ausgeglichene Balance achten und Ruhephasen einlegen, waren sicher ernst gemeint. Kein Manager, der einigermassen bei Verstand ist, würde sagen, ich schaffe ein Umfeld, in dem wir auf schnellstem Weg so viele Burnouts wie möglich verursachen. Es ist schwierig zu erklären, wie beides gleichzeitig möglich sein soll, dass jemand überzeugt ist, er tue alles, damit seine Mitarbeitenden gesund, leistungsfähig, zufrieden und ausgeglichen bleiben, aber gleichzeitig schneller und erfolgreicher sein will als die Konkurrenz.

Das ist ein Spagat…
… ja, es ist eine Form von Unvereinbarkeit.

Wie wirkte sich diese Erreichbarkeitskultur auf Dein Leben aus?
Ich wurde in dieser Zeit Vater, meine Frau blieb berufstätig. Damit es immer für Alles reicht, bist du einfach permanent am Rennen – das war mein Lebensgefühl. Das hat sich schon ausgewirkt, gerade zu Hause. Du wirst dünnhäutiger, reizbarer, bist darauf getrimmt, dass immer alles auf Anhieb klappen muss. Du überlegst dir: In der Zeit, in der ich das Velo zur Garage herausnehme, kann ich noch kurz mit dieser Person telefonieren. Sobald ich ein Headset hatte, habe ich Telefongespräche auf meine Fahrzeit mit dem Velo terminiert.

Wie war das für Dich? Wie hast du Dich gefühlt mit einem entsprechenden Tagesablauf?
Unter Strom. Es gab aber immer auch Flow-Momente, wenn du erlebst, es geht alles auf nach Plan. Klar, das findest du dann cool und denkst, wow, was ich heute alles nebeneinander geschafft habe.

Hattest Du für Dich in dieser schnelllebigen Zeit Strategien entwickelt, um abzuschalten?
Mein Vorteil war, dass ich immer gut geschlafen habe. Trotzdem ging ich schneller an die Decke oder war unverträglich – ein unerfreulicher Nebeneffekt. Ich spürte schon, dass ich ans Limit kam, wenn ich nie Ruhe hatte. Ich habe einfach funktioniert, im Geschäft, zu Hause und konnte das zu meinem eigenen Erstaunen bewältigen.  Ich will mich auch gar nicht darüber beklagen, ich hatte mein Berufsleben so gewählt und war frei, das zu ändern.